privates & unterwegs

Die Zeit hat an den Orten meiner Kindheit genagt

bineNachdem Gilly von seiner Jugendzeit im Internet berichtet hat, möchte auch ich etwas aus dem Nähkästchen plaudern. Denn im Gegensatz zu ihm bin ich erst sehr spät in die Onlinewelt eingestiegen. Mein Leben war Offline und Real Life pur.

Ich bin zwar Berlinerin und damit ein Großstadtkind, doch aufgewachsen bin ich im Randbezirk Zehlendorf, mehr Dorf als Stadt. Nun war ich am Muttertag wieder einmal in meinem „Dorf“ und musste erschreckend feststellen, dass es die Orte meiner Kindheit so gar nicht mehr gibt. Es ist nicht so, dass ich nicht regelmäßig vor Ort bin. Doch irgendwie fällt einem die Veränderung plötzlich auf.

S Zehlendorf

In Zehlendorf war meine Kindheit wirklich behütet. Der Schulpolizist geleitete uns jeden Morgen sicher über die Drückampel. Die Klasse bestand aus den Kindern der Düppelsiedlung und der Postsiedlung. Man fand also auch nach der Schule immer jemanden zum Spielen. Ein großer Tennisplatz und Fußballplatz mit Lagerfeuerstelle war ein beliebter Treffpunkt. Beim Abklappern der einzelnen Mitschüler traf man auf Schafe, Pferde und Urrinder und wenn jemand mal nicht zu Hause war, klingelte man einfach an der nächsten Tür. Noch heute erkennen mich die Eltern meiner Klassenkameraden daher auf der Straße.

Dieser dörfliche Touch wurde durch die aktive Gemeinschaft unterstützt. Im Sommer stellte Herr Lehmann von der Behringapotheke immer eine Eisenbahnstrecke im Vorgarten auf. Mehrere Loks fuhren dort den ganzen Tag.

Zum großen Sommerfest wurde der gesamte Teltower Damm gesperrt und jeder Laden hatte einen Spielstand für die Kids. Besonders beliebt war der Stand der Dresdner Bank an dem man für einen Sechserpasch den großen Sparelefanten beim Würfelspiel gewinnen konnte (heute wär diese Art von Glücksspiel bestimmt wegen der Suchtgefahr verboten).

Dresdner Bank Sparbuch & Spardose Drumbo

Und abends saßen die Eltern auf Bierbänken neben dem Goldfischteich auf dem Dorfanger bei Grillgut und Bierchen und wir Kids machten unsere Auftritte als Schottenkinder.

Als ich älter wurde ging man dann ins Bali – großes Kino. Auf Toilette gehen war aber verboten, da das Bali keine eigene hatte und nur ein Toilettenhäuschen gegenüber verfügbar war.

Kino am S-Bahnhof Zehlendorf
CC by michfiel

Direkt neben dem Blumenrondell, wo die bösen Penner rumlungerten. Frisch eingekauft wurden Kartoffeln in den Bruchbuden an der S-Bahn und sein Taschengeld besserte man auf, indem man für die Einkäufer bei Reichelt die Wagen wegbrachte. Für 50 Wagen sammelte man Marken und dann war ein Sammelheft voll. Das gab immer 5 DM! Zu Weihnachten musizierte ich mit meiner Freundin vor der Adlerapotheke immer für einen guten Zweck. Der Besitzer, Herr Adler, ließ dies nicht nur zu, er gab uns auch jeden Adventssonntag 5 DM in unsere Sammelbüchse!

Der ehemalige S-Bahnhof Zehlendorf-Süd
CC by Schockwellenreiter

Wie ihr seht, eine idyllische Kindheit. Nur davon ist inzwischen irgendwie nichts mehr da. Was machen die Zehlendorfer Kids nur heutzutage?

Das Straßenfest gibt es schon lange nicht mehr. Der Goldfischteich wurde aufgrund der Wartungskosten schon vor Jahren in ein Blumenbeet umgewandelt. Die Schottenkinder gibt es zwar noch, aber meiner Meinung nach ist ihr Zusammenhalt mit der Seele hinter dieser Jugendgruppe – „unserem Bossi“ – gestorben. Die Lok vor der Behringapotheke wurde aufgrund fortgeschrittenen Alters nicht mehr aufgebaut. Nun gab es nur noch die kleine Winterlok im Schaufenster. Herr Adler hat seine Apotheke verkauft und ist in Rente gegangen. Und das Bali? Ja es gibt es noch. Aber in Zeiten der Multiplex-Anlagen geht man sich doch keine alten Filme in einem 1-Raumkino mehr ansehen. Die Baracken haben der Strauß Innovation Platz gemacht und das Pennerrondell heißt nun „Forum Zehlendorf“ und bietet ein paar Läden zu völlig überzogenen Mieten Platz.

Panoramaaufnahme vom Teltower Damm

Der Reichelt ist umgezogen. Am alten Standort gab es eine Weile einen Biomarkt, aber der ist nun auch wieder weg. Auch Herr Lehmann hat seine Behringapotheke nach 45 Jahren geschlossen. Ein Nachfolger hat sich nicht gefunden.

Ich werde dieses Jahr 30 und bin der eher sesshafte Typ. Erst vor zwei Jahren bin ich in einen anderen Bezirk umgezogen. Doch irgendwie fiel mir heute erst auf: Mein Dorf, so wie ich es kannte gibt es nicht mehr. Irgendwie erschreckend, wie schnell sich alles ändert.

10 Kommentare Neues Kommentar hinzufügen

  1. Sven sagt:

    Berlin ändert sich eh viel zu schnell und soll ich dir was sagen, Berlin so wie ich es als Kind kannte, gibt es schon überhaupt nicht mehr. Die Plattenbauten sind alle Renoviert, Planchen sind zu teuer, um sie noch so zu betreiben wie sie einmal betrieben wurden. Mein Kindergarten und meine Kindergrippe ist inzwischen abgerissen wurden und vieles vieles mehr. Das ist eben der Preis dafür wenn man erst in der DDR gelebt und dann in die BRD integriert wurde 😉

  2. m.o.m. sagt:

    Achja, mein Zehlendorf. Damals im Floyd zu Duran Duran und Depeche Mode getanzt, im Olympia Grill Pommes gegessen, bei Eis Henning Eis geleckt und dieser kleine Kiosk gegenüber Woolworth an dem wir morgens auf den BVG Bus 1 gewartet hatten um zur Kopernikusschule am Ostpreußendamm zu fahren. Verdammt lang her!

  3. Jay sagt:

    Das ist nicht nur in Berlin so, sondern auch hier „Tief im Westen“. Es ist erschreckend wie schnell sich alles in der Umgebung verändert. Es ist so schleichend das man es erst nicht bemerkt, irgendwann schaut man genauer hin und dann erschrickt man fast. Auch die Proportionen stimmen irgendwie nicht mehr… logisch, wenn man einen guten Meter kleiner war als man das Karussell oder den Mauervorsprung das letzte Mal gesehen hat 🙂

  4. Ricarda sagt:

    Ich kenne das Gefühl sehr gut. Mein wohl einschneidenstes Erlebnis war, als ich zusehen musste, wie das Haus, indem ich von 3-11 gewohnt habe, niedergerissen wurde, weil meine Eltern es verkauft hatten. An dem Haus hingen so viele schöne Erinnerungen, denn es war ein alter Bauernhof. Mit dem Stadthaus konnte ich mich nicht anfreunden. Alles viel zu klein. Irgendwie ist es schon traurig, dass es weg ist 🙁

  5. AndreB sagt:

    Ich bin froh, das ich keine Vergangenheit habe.
    Rumms – was auf den Kopf – und man vermisst nichts mehr von der Zeit bevor man anfings sich regelmäßig zu rasieren 🙂

  6. Kalliey sagt:

    Jap auch hier bei uns in mitten von Deutschland ist das so. Die Zeit steht nicht still, vieles verändert sich, vieles gibt es nicht mehr was früher mal feste Punkte für uns waren. Schade eigentlich.

  7. Vollo sagt:

    Sehr schön geschrieben. Bin ich eben erst drauf gestossen. Ich komme ja ursprünglich aus Braunschweig. Meine Großeltern lebten schon immer in Berlin … auch in Zehlendorf. Mittlerweile lebt nur noch meine Oma da, Opa ist schon seit 2000 tot. Meine Oma ist jetzt fast 100 (es fehlen nur noch wenige Jahre bis dahin). Unser Spielplatz war der Laehr’sche Jagdweg und der sich dahinter befindliche Laehr-Park.
    Viele Orte die Du beschrieben hast, kenne auch ich. Und von vielen Orten haben mir meine Großeltern und mein Vater berichtet. Vor allem das Bali Kino war auch Bestandteil des Lebens von meinem Vater. Er wird im nächsten Jahr 70.
    Vieles hat sich natürlich verändert. Das ist der Lauf der Zeit. Und man sehnt sich nach Altem zurück. Mir ist das aufgefallen, als wir über Ostern in meiner alten Heimat, in der Nähe von Braunschweig, bei meinen Eltern zu Besuch waren.
    Dein Artikel hat mich jetzt dazu animiert, selbst mal einen Beitrag in meinem Blog über meine Kindheit zu schreiben. Wenn ich die Zeit dazu finde, werde ich damit los legen.

    Eine schöne Woche und Grüsse aus Rheinhessen
    Vollo

  8. Malte sagt:

    Bei den Apotheken und ihren Besitzern ist wohl etwas durcheinander geraten.
    Die Adler-Apotheke hatte nie einen Besitzer namens Adler. Seit der Gründung ist die Familie von Lehmann Eigentümerin.
    Die Behring-Apotheke war tatsächlich auch im Besitz der v. Lehmanns.

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